Viele Jahre war es das gleiche Schema: Die Fahrradbranche traf sich zu einer Messe oder einem Kongress - aber die Bundespolitik hatte kein Interesse daran. Ja, Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte 2013 die Eurobike. Aber in 16 Jahren Kanzlerschaft war dies ihr einziger Besuch auf der globalen Leitmesse der Fahrradbranche. In diesem Sinne war der Parlamentarische Abend des Vivavelo-Kongresses, den der Verbund Service und Fahrrad (VSF), der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und der Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF) am 7. April in der Berliner Landesvertretung Nordrhein-Westfalens veranstalteten, umso verheißungsvoller. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) nahm die Einladung der Verbände gerne an und sprach ein Grußwort. Wie erwartet musste er danach zum nächsten Termin, aber sowohl seine Rede als auch seine Anwesenheit sorgten für eine positive Stimmung bei den mehr als hundert Teilnehmenden, unter denen auch einige Bundestagsabgeordnete waren.
Minister Wissing traf den Ton
Das lag auch an den Worten von Wissing: ,,Überall suchen und forschen wir nach der Mobilitätslösung. Sie soll effizient sein, klimafreundlich, bezahlbar, sauber, unabhängig von fossilen Kraftstoffen und möglichst auch noch ein Gefühl von Freiheit vermitteln. Das klingt nach einer Traumvorstellung. Aber es gibt sie längst: Das Fahrrad kombiniert so gut wie alle Aspekte, die ich eben genannt habe." Generell traf Wissing, der in seiner Rede über die Glücksgefühle eines Vaters bei den ersten Radmetern des Nachwuchses als auch über die ersten eigenen Radmeter sprach, den richtigen Ton. Ihm sei bewusst, dass sowohl in Städten als auch im ländlichen Bereich die Voraussetzungen fürs Radfahren nicht optimal seien. „Deswegen wollen und müssen wir mehr für den Radverkehr tun. Mit wir meine ich natürlich die Verantwortlichen in den Gemeinden, Verwaltungen und nicht zuletzt in den Ministerien." Folgerichtig stellte Wissing fest: Je besser die Bedingungen für Radfahrende sind, umso besser läuft es auch für alte Unternehmen der Fahrradbranche. Genau solche Worte hatten sich die Anwesenden erhofft. ZIV-Geschäftsführer Burkhard Stork hob die Bedeutung einer verlässlichen und langfristigen Finanzierung der Radverkehrsförderung durch den Bund hervor: „Das Fahrrad ist ein großartiges Produkt und ein hervorragendes Verkehrsmittel für Alltag und Freizeit. Damit sich der Fahrrad- und E-Bike-Boom fortsetzt, wollen wir, dass die Politik die Nutzung unserer Produkte fördert, und dies tut sie am besten, indem sie Radinfrastruktur und lückenlose Radnetze fördert. Deshalb begrüßen wir das Versprechen des Bundesverkehrsministers, das Sonderprogramm „Stadt und Land“ über 2023 hinaus zu verstetigen.“
Mutige Forderungen
Der Erfolg der letzten Jahre hat die Fahrradbranche mutiger gemacht. Aus einer starken Position heraus werden nun zielgerichtete Forderungen gestellt (siehe Kasten). Dirk Zedler stellvertretender Vorstandsvorsitzender beim BVZF, forderte, die Fahrradnutzung im Mobilitätsmix systematisch und nachhaltig zu fördern: ,,Unsere Branche ist auf Wachstumskurs und bietet neben großem Innovationspotenzial auch klimafreundliche Verkehrslösungen. Das Paradebeispiel E-Rad erweitert die Alltagstauglichkeit des Fahrrads enorm. Treiber des E-Rad-Booms und der Fahrradwirtschaft insgesamt ist das Dienstrad-Leasing. Bereits die Hälfte aller Dax-Unternehmen bieten Fahrrad-Leasing
an, Tendenz steigend. Der Gesetzgeber muss dieses Angebot endlich mit einer eigenständigen Regelung im Einkommensteuergesetz verstetigen." Uwe Wöll, Geschäftsführer beim VSF, fokussierte das Thema Fachkräftemangel. Laut einer aktuellen Händlerumfrage unter Bico- und VSF-Betrieben liegt die Bedarfslücke bei über 30 Prozent - dies entspricht mehr als 15.000 unbesetzten Stellen allein im Handel: ,,Für die nahe Zukunft brauchen wir leichtere Wege der Qualifizierung, Unterstützung beim Umbau in die moderne, modulare Ausbildung und auf breiter Linie eine umfassende Strategie zur Fachkräftesicherung. Eine vernünftige Zuwanderungspolitik, die Migrantinnen und Migranten den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtert, könnte einen guten Teil unseres Mangels abfedern“, erläutert Wöll. Bei all der Euphorie darf leider nicht vergessen werden, dass Europa von einem Krieg heimgesucht wird. Bewegende Worte dazu fand Bernhard Lange, Geschäftsführer von Paul Lange und Mitglied des ZIV-Präsidiums, der durch ein Tochterunternehmen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und vor allem durch die Sorges seiner Mitarbeiter direkt betroffen ist.
Neuer Termin für den Vivavelo-Kongress 2022
In einem Panel diskutierten Mathias Stein (SPD), Swantje Michaelsen (Bündnis 90/ Die Grünen), die Berliner Bezirksstadträtin Saskia Ellenbeck (Bündnis 90/ Die Grünen) und Sandra Wolf (Riese und Müller) die nötigen Maßnahmen zur Erreichung einer starken fahrradmobilen Zukunft. Erstmalig wurde der Parlamentarische Abend von den drei Verbänden gemeinsam veranstaltet, um einen möglichst vollständigen und vielseitigen Einblick in Industrie, Dienstleistung und Handel zu geben. Dabei wurde bekannt, dass der Vivavelo-Kongress für den 22. und 23. September 2022 terminiert wurde. Nachdem die ersten Austragungen bislang in der NRW-Landesvertretung stattfanden, folgt nun ein Umzug ins Langenbeck-Virchow-Haus in Berlin. Es wäre schön, wenn Minister Wissing oder andere ranghohe Politikerinnen und Politiker dann erneut Zeit für die Fahrradbranche finden.
Autor: Alexander Schmitz
Foto: Vivavelo