Die meisten neuen Entwicklungen gab’s schon einmal
"Bis zu den 30er Jahren gab es eigentlich alles schon, was wir heute kennen", schickt Zedler voraus: Speichen, Getriebenaben, Beleuchtung. Sattel mit Hodenaussparung, Liegefahrräder, Bambusmodelle. "Wir haben hier ein 80 Jahre altes Tandem mit blockierbarer Federgabel und Trommelbremse, das hat quasi alles, was heute ein modernes Mountainbike hat", sagt Zedler. "Draußen steht aus den 1890ern ein vollgefedertes Fahrrad. Solche Sachen wurden später wiedererfunden."
Anders als den großen Autokonzernen fehlt der Fahrradbranche ein lückenloses Entwicklungsarchiv; erst im Nachgang mancher Entdeckung wird offenbar, dass es Vorläufer gibt. Das hat mit der Geschichte des Velos zu tun und mit drei großen Hemmschuhen: dem Weltsportverband, dem Krieg und dem Motor.
Karl Drais erfand seine Draisine als alternatives Beförderungsmittel, nachdem die Futterpreise für Pferde zu hoch wurden. Zum Massenfahrzeug wurde das Fahrrad aber erst mit der Industrialisierung. Heerscharen von Arbeitern mussten zu den neuen Fabriken gelangen; die Industrialisierung selbst erlaubte die Herstellung in entsprechender Stückzahl. Der Kauf war teuer, und große Firmen investierten entsprechend in die Entwicklung. Als innovationsfreudigster Bereich etablierte sich der bald sehr populäre Rennsport, doch dort wurden nicht alle Neuerungen zugelassen. "Der Weltradsportverband verhindert viel Fortschritt", sagt Zedler, "weil die Leute typischerweise das fahren, was die Radprofis vormachen." In den 40er Jahren brach die Entwicklung aber vor allem deshalb ein, weil die Industrie ihre Kapazitäten in Motoren und Rüstung für den Weltkrieg steckte. Dann folgten der Siegeszug von Autos und Motorrädern und der Absturz des Fahrrads zum Arme-Leute-Vehikel.
"Zwischen 1935 und 1985 hat es quasi überhaupt keine Entwicklung gegeben", sagt Zedler, der den Bauteilen aus dieser Zeit stetig sinkende Qualität bescheinigt. "Alles was die Fahrradindustrie geschafft hat, war die Entwicklung des Klapprads in den 70er Jahren" – eine verzweifelte Adaption an den automobilen Kofferraum, quasi die endgültige Kapitulation.
Erst den US-Trends Mountainbiking und Triathlon in den 80er und 90er Jahren schreibt Zedler eine Imageverbesserung zu. Die Tour de France wurde zum Mega-Event und erlebte die Entwicklung neuer Technologien. Das Fahrrad begann eine Ära als hochgezüchtetes Leistungsgerät im Sport einerseits, als modisches Lifestyle-Accessoire andererseits.
Beim Masseneinsatz von Carbon habe die Branche die Autoindustrie sogar überholt, freut sich Zedler, der in Baden-Württemberg und bundesweit Preise für ein besonders fahrradfreundliches Arbeitsumfeld abgeräumt hat. "Ich erwarte jetzt keine Wahnsinnssprünge mehr", sagt er dann zur Spitzentechnologie. "Die Fahrräder werden nicht mehr so viel leichter." Statt dessen, so seine Prognose, wird sich das Fahrrad auf seine Wurzeln besinnen und wieder zum Massentransportmittel werden. Das könnte viel tiefer gehende Umwälzungen bewirken.
Räder sind kein Hobby mehr – sondern Mobilität
In Deutschland werden seit Langem pro Jahr rund vier Millionen Fahrräder verkauft. Der Anteil der E-Bikes daran steigt aber beharrlich. Ihre Nutzer nehmen sie weit häufiger in Anspruch als die Besitzer herkömmlicher Untersätze die ihren. Sie geben ja auch mehr dafür aus.
Diese Menschen kaufen kein Hobby mehr, sondern wieder Mobilität, wie das ganz zu Beginn einmal war, erklärt Zedler. Aber jemand, der Mobilität kauft und dafür im Schnitt zweieinhalbtausend Euro auf den Tisch legt, erwartet sie auch. Dünn gesäte Fachwerkstätten, hypersensible Spezialteile, lange Reparaturzeiten: Nichts davon verträgt sich mit der Zuverlässigkeit, die etwa Berufspendler brauchen. "Diese Herausforderung ist jetzt die wichtigste Entwicklung", sagt Zedler: "Dem Fahrrad auf allen Ebenen ein hohes Maß an Verfügbarkeit, Nutzbarkeit, Kundenfreundlichkeit anzuerziehen".
Dass autoaffine Konzerne wie Bosch seit der Entwicklung des E-Bikes wieder mitmischen wollen, wo bislang eine Spezialbranche tüftelte: Für Zedler ist das ein Indiz dafür, dass der Fortschritt in sehr viel größeren Sprüngen erfolgen könnte als in den vergangenen drei Jahrzehnten. Es geht ja auch längst nicht nur darum, bestehende Technik robuster zu machen. Neben der Elektronik erwartet Zedler im Bereich der Digitalisierung Quantensprünge, vom Wartungshinweis über die Kommunikation mit dem Hersteller bis zur intelligenten Radständersuche und der Einbindung in Verkehrsleitsysteme. "Das Fahrrad geht zurück dahin, wo es schon mal war", sagt Zedler: "Es wird wieder Mobilität. Dadurch erfindet sich die Fahrradbranche neu."
Autor: Jens Schmitz
Fotos: Jens Schmitz