Ein lauter Knall - das war das Letzte, was Eberhard W.* hörte, bevor sich sein Renner unter ihm verselbständigte, während er gerade gut gelaunt eine 16 Prozent steile Abfahrt hinunterflitzte. Bremsen? Keine Chance. Alle Versuche des 36-Jährigen, sein Rad wieder unter Kontrolle zu bringen, scheiterten. Er stürzte. Als er sich wieder aufrappelte, war sein ganzer Körper übersät mit Schürfwunden, das Rad völlig demoliert, Schaltbremsgriff, Lenker, Pedal, Schaltwerk und Sattel zerkratzt. Ursache des Horror-Crashs, der glücklicherweise glimpflich ausging: Die Felgenhörner seiner Carbon-Drahtreifenfelge waren auf zehn Zentimeter Länge eingerissen. Der Schlauch hatte daraufhin den Reifen nach außen gedrückt und war geplatzt.
Das hintere Carbon-Laufrad im Renner von Klaus H.* fand ebenfalls auf einer Abfahrt sein jähes Ende. Nach 120 Kilometern Alpen-Tour sauste er eine zwölf Prozent steile Straße hinunter, als die Bremshebel in seinen Händen zu pulsieren begannen und das Rad anfing zu stuckern. Dem Hobbyradler gelang es gerade noch, seinen Renner zum Stehen zu bringen. Beim Blick aufs Hinterrad entdeckte Hindenbrand Merkwürdiges: Die Flanken wellten sich wie feuchte Pappe. Die rauschende Abfahrt konnte der Radsportler nur noch im Schritt-Tempo fortsetzen.
So unterschiedlich die Schäden an beiden Laufrädern, so eindeutig deren Ursache: Hitzetod. Die beim Bremsen entstandene Wärme auf der Felge war so hoch geworden, dass sie das Epoxydharz, in das die Carbonfasern der Felge eingebettet sind, schmelzen ließ. Die Schichten aus Carbongewebe verloren ihren Zusammenhalt, das Laufrad seine Form. Bei Schlauchreifenfelgen verschieben sich zuerst die Harzanteile, die Bremsflächen werden ungleichmäßig abgerubbelt und in manchen Fällen wellen sich die gesamten Felgenflanken. Das ist ärgerlich, signalisiert dem Radsportler aber meistens noch rechtzeitig, dass etwas mit dem Rad nicht stimmt, bevor es zum Sturz kommt. Bei Drahtreifenfelgen hingegen kann es passieren, dass Schlauch und Reifen die aufweichenden Felgenflanken nach außen drücken, bis der Schlauch frei wird - und platzt. Dieses Verhalten lässt sich in standardisierten Prüfstands-Versuchen gut reproduzieren.
Dennoch: Als die beiden Radsportler die Schäden an ihren Laufrädern dem jeweiligen Importeur meldeten, bekamen sie nicht etwa eine Entschuldigung und neue Laufräder. Sie mussten vielmehr, völlig unabhängig voneinander, mehrere Monate mit den Importeuren streiten und sich vorwerfen lassen, sie hätten die Laufräder unsachgemäß verwendet. Schließlich, so wurden ihnen vorgehalten, seien die Laufräder von Radprofis unter härtesten Bedingungen getestet worden, und dabei habe es nie Probleme gegeben.
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Dass die Hitzeentwicklung beim Bremsen ein Problem für Carbonlaufräder darstellt, wissen natürlich auch die Hersteller und experimentieren inzwischen mit Harzen als Matrix für die Carbonfasern, die bis zu 300 Grad Celsius aushalten - eine Temperatur, bei der Schlauch, Reifen und Bremsbeläge längst weggeschmolzen wären. Das Problem freilich bleibt, dass Carbonfelgen die Hitze materialbedingt einfach schlecht leiten - egal, welches Harz die Schichten verklebt. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob die Oberfläche glänzend glatt lackiert oder das Gewebe leicht angeraut ist. Die Carbonflanken, die häufig nicht exakt parallel zueinander verlaufen, lassen die Bremse zudem häufig rubbeln, quietschen und machen sie äußerst schwierig dosierbar: Mal packt sie zu fest, mal gar nicht - ein Unsicherheitsfaktor. Die Bremsklötze verschleißen schnell, bei Nässe verweigern sie oft fast völlig den Dienst. Dabei sind die Bremsbeläge für Carbonfelgen schon speziell ausgelegt. Normale Bremsbeläge für Alu-Felgenflanken würden den Belastungen in der Regel gar nicht standhalten und einfach wegschmelzen.
Bremsbelag und Struktur der Laufrad-Bremsfläche müssen folglich genau aufeinander abgestimmt sein. Aber nicht alle Laufrad-Hersteller lassen spezielle Beläge anfertigen, sondern sprechen lediglich eine Empfehlung aus.
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Keine Frage: Das Trend-Material Carbon hat in den vergangenen Jahren bei Rahmen, Gabeln und Komponenten viele Entwicklungen ermöglicht, die für die meisten Rennradsportler von (Gewichts-)Vorteil waren. Bei Laufrädern überwiegen aber nicht selten die Nachteile - und aus dem vermeintlichen High-Tech-Accessoire kann unversehens ein gefährlicher Anachronismus werden.
Text & Fotos: Dirk Zedler
* Namen sind der Redaktion bekannt, die Nennung unterbleibt aufgrund noch laufender juristischer Verfahren