Spätestens mit der Mehrheitsbeteiligung der Investmentholding Group Bruxelles Lambert (GBL) am Direktversender Canyon Ende 2020 wurde klar, dass die Fahrradbranche ihr Nischendasein verlassen hat. Canyon, gestartet als Eigenmarke des Koblenzer Radhändlers Radsport Arnold, war und ist einer der Technologieführer der gesamten Fahrradbranche und hatte sich zu einer überaus erfolgreichen Marke auch im professionellen Sport vom Triathlon über Pro-Tour Radrennen, bis hin zu verschiedenen MTB-Kategorien von Cross Country bis Downhill entwickelt. Bewertet wurde das Unternehmen zum Zeitpunkt des Verkaufs, mitten in der Corona-Krise, mit 800 Millionen Euro, das Wachstum betrug die Jahre davor, den Angaben nach, jährlich um rund 25%.
Dabei ist dieser grandiose Erfolg von der klassisch strukturierten Fahrradbranche viele Jahre lang für wenig wahrscheinlich gehalten worden. Keine Besichtigung der Fahrräder bei Online-Kauf, kaum Beratung, keine Anpassung an den Fahrer und keinen Werkstattservice vor Ort. Gerade Letztgenanntes war die Reaktion des Handels auf die immer größer werdende Marktpräsenz. Räder aus dem Versandhandel, auch die des großen Mitbewerbers Rose Bikes und weiteren, werden von vielen Händlern nicht zur Reparatur und Wartung angenommen.
Das Beispiel Canyon zeigt deutlich: Blockade und Beharrung haben sich offensichtlich nicht als die richtige (Abwehr-)Strategie bewährt. Fast alle Beteiligten der Branche müssen sich in den kommenden Jahren auf weitere gravierende Veränderungen einstellen – und darauf mit Engagement reagieren.
Bleiben wir beim Handel mit typischerweise angegliederter Werkstatt. Die Herausforderungen waren in den vergangenen (Corona-)Jahren gewaltig und sind es immer noch, doch der Druck wird weiter zunehmen. Händler haben oft das Nachsehen, was Produktauswahl im Ladengeschäft angeht und typischerweise einen Stau in der Werkstatt. Garniert wird die ungute Mischung vom Mangel an qualifiziertem Personal in den Servicethemen, vom Verkaufsberater über den Leasing- und Versicherungsexperten im Team, bis hin zu Werkstattkräften, die auch in Stoßzeiten nicht nur nach Fahrrad aussehende, sondern den Kunden komplett betriebsbereite Fahrräder und E-Bikes bereitstellen. Strukturierte Werkstätten, die einerseits Wartungen und Reparaturen nach zeitnaher Terminierung punktgenau abarbeiten und zudem in der Lage sind, ad hoc kleinere Reparaturen nebenbei durchzuführen, sind nach wie vor Mangelware.
Automotive Service-Ketten und Händlerverbünde
Genau in diese Misere stoßen nun Marktteilnehmer der sich in der Transformation befindlichen Automobilwirtschaft. Große Ketten, wie z.B. ATU, die sich selbst (noch) als „Ihr zuverlässiger Partner für Autoteile und Autoservice!“ betiteln, haben als Fernziel ausgegeben, ein flächendeckendes Netz für den E-Bike Service aufzustellen. ATU betreibt rund 600 Servicestellen in der D-A-CH Region.
Erste größere Autohausketten springen ebenfalls auf den Zug auf und beginnen mit dem Verkauf und dem Service von E-Bikes. Solche kommenden Marktteilnehmer sind geradezu prädestiniert, den Fahrradhandel anzugreifen, denn diese haben zwar (noch) wenig spezifische Fahrrad-Fachkenntnis, aber eine solide Werkstattstruktur, jahrelange Erfahrung mit dem computergestützten Arbeiten in der Werkstatt, die Möglichkeit von Online-Terminbuchungen und meist eine durchorganisierte Reparaturannahme. Unter dem Druck sich verändern zu müssen, da Elektroautos weniger Wartung benötigen, werden die Wissenslücken sicher schnell geschlossen werden. Und allzu fern sind diese neuen Herausforderer der Fahrradtechnik ja nicht, schließlich sind beispielsweise Bosch, Brose, Mahle, Yamaha und ZF in der Automotivewelt bekannte Größen.
Und dann schließt sich der Teufelskreis gegen den Fahrradfachhandel: Die Fahrräder und E-Bikes werden zunehmend auch von aktuell noch fachhandelstreuen Marken online oder über fachfremde Handelsketten, wie z.B. Media Markt oder ähnliche, an den Kunden gebracht. Die Wartung übernehmen Betriebe der Automobilwirtschaft und Ersatzteile und Zubehör werden gleich dazu verkauft.
Von den Stärken der anderen lernen
In Rennfahrerkreisen weiß man, dass man Radrennen gewinnt, wenn man dann angreift, wenn es ohnehin schon weh tut. Es ist höchste Zeit, für die klassische Radbranche genau das nun zu tun. Statt als Hersteller auf den Handel zu schimpfen und genauso umgekehrt – was ich viel zu oft höre – muss sich die Branche in vielen Themen zusammenraufen. Hier ist die Automobilwelt deutlich weiter. Aber wie gelingt das?
Hersteller und Handelsverbände, ja alle an der Branche beteiligten Akteure (Versicherer, Leasinggeber etc.), müssen attraktive Schulungsprogramme auflegen. Dabei sind Produkte, Technik, Leasing- und Versicherungsverträge noch nicht die gesamte Palette des Wissenstransfers. Auch so genannte weiche Themen, wie Kommunikation mit dem Kunden und Serviceannahme müssen generell auf ein höheres Niveau gebracht werden. Dazu kommen noch Spezialthemen, wie die Erstellung professioneller Kostenvoranschläge, bis hin zur Erstellung von Gutachten nach Unfällen.
Wichtig dabei: Es reicht nicht, wenn der Chef alles gehört hat, das Wissen muss in das gesamte Team durchsickern. Die größte Herausforderung ist der Wandel in der Herangehensweise, denn Händler müssen den Invest tragen, Mitarbeitende zu den spezifischen Themen auszusenden.
Positiv ist, dass die Chancen nie besser waren, denn an der Fahrradbranche Interessierte gibt es derzeit nicht nur seitens von Investoren und der Automobilwelt, auch die Bewerberzahlen für Jobs in derzeit am Markt aktiven Firmen steigen deutlich. Um neue Leute in die Branche zu holen, können Händler mittlerweile in vielen Berufsfeldern ausbilden und Quereinsteiger qualifizieren lassen, denn erste Angebote gibt es in allen Bereichen.
Foto: Zedler-Institut